Mittwoch, 5. Dezember 2012

Philosophie-Essay: Der Zweck von Religionsgemeinschaften

Ich poste hier dann mal die ungekürzte Fassung meines Philosophie-Essays zum Thema "Gesellschaftlicher Zweck von Religionsgemeinschaften".

Essay: Der gesellschaftliche Zweck von Religionsgemeinschaften

 

Im Folgenden werde ich den Zweck, den Religionsgemeinschaften in Gesellschaften er- füllen können, erarbeiten und im Anschluss etwaige aus diesem Zweck oder dem Versuch seiner Erfüllung resultierende gesellschaftliche Risiken darstellen. Vorab müssen jedoch eine kurze Begriffserklärung stattfinden und einige Anmerkungen ge- macht werden, um Missverständnisse beim Lesen des Textes zu vermeiden.
  • Als Religionsgemeinschaften sollen solche Vereinigungen definiert sein, in denen sich Menschen aufgrund eines gemeinsamen spirituellen Glaubens organisieren, um diesen gemeinsam zu praktizieren. Als Beispiel können hier die monotheistischen Bekenntnisre- ligionen sowie deren Unterformen, nontheistische Religionen wie der Buddhismus oder für gewöhnlich als Sekten bezeichnete Gruppen wie zum Beispiel Scientology genannt werden;
  • Als Gemeinde sollen regionale Gruppen solcher Religionsgemeinschaften definiert sein;
  • Der gesamte beschriebene Entstehungsprozess solcher Religionsgemeinschaften ist ausdrücklich nicht als bewusst gesteuerter oder im Voraus geplanter Prozess zu verstehen, sondern vielmehr als ein evolutionäres „Survival of the Fittest“ der Religionsgemeinschaften;
  • Als Gesamtgesellschaft soll eine größere Gesellschaft definiert sein, wie beispielsweise „die Deutschen“;
  • Als Subgesellschaft soll eine regionale Untergruppe einer Gesamtgesellschaft definiert sein, im Beispiel also „die Bremer unter den Deutschen“.
Um ihrem gesellschaftlichen Zweck nahe zu kommen, möchte ich mit der Entstehung von Religionsgemeinschaften beginnen. Jede solcher Gemeinschaften hat ihren Ursprung not- wendigerweise in irgendeiner Form einer ersten „Keimzelle“, einer Gruppe, die sich meis- tens um einen irgendwie gearteten „Propheten“ bildet, der einen Glauben predigt, mit dem sich die Beteiligten der Keimzelle identifizieren können. Beim Buddhismus war dies Buddha selbst, im Islam der Prophet Mohammed und im Falle von Scientology L. Ron Hubbard. Nun wachsen erfolgreiche Religionsgemeinschaften durch passive oder aktive Missionie- rung und verbreiten sich mit der Zeit auch geografisch. Wo immer danach genug Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft nahe beieinander leben, werden sie eine Gemeinde nach Vorbild der ursprünglichen Keimzelle formen, in der sich früher oder später meistens ähnli- che Strukturen bilden, in denen ein religiös Gelehrter mit seiner Erfahrung in der Religions- gemeinschaft die spirituellen Praktiken anleitet, Glaubensinhalte an die übrigen Mitglieder vermittelt und so gewissermaßen die Gemeinde anführt.
Spätestens an diesem Punkt, je nach Wachstumsgeschwindigkeit der jeweiligen Religions- gemeinschaft jedoch wahrscheinlich schon deutlich früher, selektiert sich automatisch, ob eine Religionsgemeinschaft Potenzial hat, dauerhaft weiterzubestehen, da sie spätestens jetzt an die nächste Generation nach der Gründungsgeneration weitergegeben werden, also gewissermaßen „vererbt“ werden muss. Die üblichste Form ist dabei das Verknüpfen von Familien- und Religionsleben, beispielsweise durch Taufe und Konfirmation im evange- lischen Christentum. Um allerdings so eine tiefgreifende Verknüpfung herzustellen, muss eine Religionsgemeinschaft in ihren Praktiken Mechanismen aufweisen, die dem Glauben eine möglichst globale Bedeutung für das Mitglied der Religionsgemeinschaft geben. Dies geschieht in erfolgreichen Fällen wie den Geschichten von Christentum, Islam, Buddhis- mus, Judentum et cetera über moralische Regeln und deren religiöse Festschreibung. Dieser ganze beschriebene Prozess ist, das sei angemerkt, lediglich ein Modell, das stark vereinfacht, um die notwendigen Zusammenhänge knapp darzustellen. Der gesamte Pro- zess ist in der Realität stark variabel und kann fallabhängig sehr schnell (Scientology) oder relativ langsam (Christentum) ablaufen. Anders formuliert: Je globaler und tiefgreifender die moralischen Regeln sind, die das Glaubenssystem einer Religionsgemeinschaft ihren Mit- gliedern vermittelt, desto größer sind dessen Chancen auf Fortbestand. Auch das Wachs- tum einer Religionsgemeinschaft wird positiv beeinflusst, da Menschen auf der Suche nach Orientierung im Leben in einem fertigen Lebensentwurf, das diese Moralmaßstäbe anbieten können, eine solche Orientierung sehen können.
Hier ist der Punkt erreicht, an dem ich an das eigentliche Thema dieses Essays anknüpfen möchte: Zwar ist das Aufstellen moralischer Maßstäbe keinesfalls ein vorab geplanter Zweck solcher Religionsgemeinschaften; die Keimzellen entstehen aus dem bloßen menschlichen Trieb, sich einer Gruppe zugehörig fühlen zu wollen. Allerdings bleibt es doch ein Zweck, auch wenn es nur ein Überbleibsel aus dem Ausschlussverfahren, das der Entstehungspro- zess darstellt, und in dem es einen erheblichen Vorteil darstellt, ist.
Je größer der Anteil von Mitgliedern einer einzigen Religionsgemeinschaft an einer Gesell- schaft ist, desto besser kann dieser Zweck erfüllt werden, da ein größerer Teil der Gesell- schaft von diesem zweck erfasst wird. Daraus folgt: Eine Gesellschaft, in der der Mitglie- deranteil einer einzigen Religionsgemeinschaft so groß wie möglich ist, hat so einheitliche Moralvorstellungen wie möglich, solange in ihr keine weitere Religionsgemeinschaft mit ähnlichem Anspruch und vergleichbarer Mitgliederzahl vorhanden ist. innerhalb einer sol- chen, religiös homogenen Gesellschaft ist daher das Potenzial von Konflikten, die aus Dif- ferenzen in moralischen Vorstellungen resultieren, verhältnismäßig gering. Außerdem ent- halten solche religiösen Moralvorstellungen oftmals auch Konzepte zur Konfliktbewältigung, deren Einheitlichkeit zum innergesellschaftlichen Frieden beitragen kann.
Wenn also, zusammenfassend gesagt, eine Gesamtgesellschaft vollständig aus Mitgliedern einer einzigen Religionsgemeinschaft bestünde, so wäre diese maximal homogen in Fragen der Moralvorstellungen, die auch Werte wie Solidarität, Konfliktkultur und Affektkontrolle ent- halten können, und hätte damit die maximal durch Religion erreichbare Nähe zum idealen
innergesellschaftlichen Frieden erreicht. Dies ist also der Zweck, dem Religionsgemeischaf- ten in Gesellschaften dienen können. In der Realität beschränkt sich dieser Zweck allerdings auf Subgesellschaften wie beispielsweise Dorfbevölkerungen, da Gesamtgesellschaften so gut wie nie in Religionsfragen ausreichend homogen sind, um einen so massive Effekt zu erzeugen, doch er ist trotzdem zu beobachten. Es ist hier anzumerken, dass dieser Effekt idealisierte Bedingungen benötigt, d.h. in einer religiös homogenen Gesellschaft müssten sich alle Individuen an die durch die Religion vorgegebenen moralischen Richtlinien halten; es handelt sich sozusagen um eine gesellschaftliche Idealvorstellung ähnlich der des Sozi- alismus, doch der eigentliche Zweck ist trotzdem, wenn auch nicht im Ideal, zu beobachten. Es ist allerdings möglich, dass Religionsgemeinschaften bei der Vermittlung von morali- schen Maßstäben einen totalitären Anspruch entwickeln. Das Risiko hierzu entsteht, wenn religiös sehr homogene Subgesellschaften, die im Rahmen anderer, übergeordneter Ge- samtgesellschaften existieren, über lange Zeiträume und insbesondere mehrere Mitglie- dergenerationen hinweg zu isoliert von der übergeordneten Gesamtgesellschaft leben. Der „Mitgliedernachwuchs“ wird so im schlimmsten Fall ohne Gegenentwurf zum erlebten, re- ligiös gefestigten Gesellschafts- und Moralmodell sozialisiert. So „worst-case“-sozialisierte Mitglieder entwickeln nur einen eingeschränkten Gedankenhorizont, da sie nur ein einziges funktionierendes Konzept von Moral und Gesellschaft kennenlernen. Diese Tendenz kann sich potenzieren, wenn religiöse Traditionen diesem einzigen Konzept eine lange Historie von Funktionstüchtigkeit geben und dieses Konzept so von Generation zu Generation im- mer weiter festigen.
Wenn nun eine solche religiös homogene Kleingesellschaft im Rahmen ihrer Gesamtge- sellschaft auf einmal mit widersprüchlichen Konzepten, die, wieder im schlimmsten Fall, eine ähnliche Tradition des unkritisierten Vererbens aufweisen, konfrontiert werden, kann es passieren, dass sie sich radikalisiert und gegenüber dem fremden Konzept feindlich positi- oniert. Es kommt zu auf gesamtgesellschaftlicher Ebene innergesellschaftlichen Konflikten, deren Ausprägung jedweder Art zwischen Alltagsdiskriminierung und im schlimmsten Fall Bürgerkriegszuständen sein kann.
In diesem Szenario der langfristigen Isolation und danach Konfrontation kann es durch das Vermitteln einheitlicher Moralvorstellungen auf Subgesellschaftsebene langfristig zu einer Störung des gesamtgesellschaftlichen Friedens kommen.

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