Dienstag, 9. Oktober 2012

Die Podiumsdiskussion - Eine Erzählung von politischer Frustration

“Du wurdest dazu vorgeschlagen, bei einer Podiumsdiskussion mit dem Bürgermeister mitzumachen. Hast du Lust?“
Ich wusste zwar nicht, worum genau es dabei gehen würde, aber spontan sagt man zu einer Diskussion mit dem Bürgermeister, bei der man anscheinend seine Schule vertreten soll, natürlich nicht Nein. Mir wurden dann die Details mitgeteilt: Das Alles sollte am Mittwoch, den 26. September, um 18:45 stattfinden, im Zentrum der Veranstaltung sollte der Ehrengast, der Autor Zafer Senocak, stehen, der aus seinem Buch „Deutschsein - Eine Aufklärungsschrift“ lesen würde. Im Anschluss daran sollte es eine Podiumsdiskussion mit Schülern verschiedener Schulen zum Thema Intergration geben, an der untern anderen auch der Autor und Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen beteiligt sein sollten. Die gesamte Veranstaltung würde im Rahmen der Bremer Integrationswoche stattfinden.
Gesagt, getan: Ich erhielt einiges Vorbereitungsmaterial zu Zafer Senocak: Artikel von ihm und über ihn und sein Werk, Interviews mit ihm und auch sein bereits erwähntes Buch. Über seine Ideen und Ansichten zum Thema Integration war ich also nachhaltig informiert. Bei Jens Böhrnsen wurde die Recherche schon um einiges komplizierter - Es ist unglaublich, wie schwierig es sein kann, eine konkrete Meinungsäußerung eines Politikers zu einem konkreten Thema zu finden.
Zumindest über die eine Hälfte der beiden zentralen Figuren des Abends gut informiert, kam ich also mit vielleicht vierzig anderen Schülern meiner Schule zum Rathaus, wo auch jeweils ähnlich viele Schüler von drei oder vier anderen Schulen anwesend waren. Mein erster Eindruck: Viele der anderen Schüler schienen vom Thema des Abends, Integration, aufgrund ihres offensichtlichen Migrationshintergrundes persönlich betroffen und auch daran interessiert zu sein; es versprach also ein interessanter Abend zu werden.
In der historischen oberen Rathaushalle (ein wahnsinnig einschüchternder, überladener Prunkbau, angefüllt mit vergoldeten Verzierungen an Decke und Wänden, Wand- und klassischen Gemälden in Übergrößen und nicht zuletzt drei antiken, von der Decke herabhängenden Schiffsmodellen, bestückt mit viel zu vielen, viel zu großen Kanonen) dann der erste Verwirrungsmoment: In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit fünf Sitzplätzen, alle mit Namen versehen, doch nirgends waren Podiumsplätze für irgendwelche Schülervertreter zu sehen.
Zuerst die Lesung abwarten und im Plenum sitzen bleiben, dachte ich mir; ähnliches riet mir einer unserer begleitenden Lehrer. Ich hatte während der Wartezeit schon ein kurzes Vorstellungsstatement mit meinem Namen, Schule und Jahrgang, sowie meiner Kernfrage, kurz zusammengefasst „Welche Rolle spielt Bildung für die Intergration und Identitätsfindung, wo liegen Fehler und Potenziale?“, vorbereitet.
Nach einigen kurzen Statements des Bürgermeisters, der Zafer Senocak und sein Buch kurz vorstellte, und eines Vertreters des Bremer Unternehmerverbandes (Cornelius Neumann-Redlin), begann die Lesung. Der Autor stellte sich kurz vor und begann dann aus seinem Buch zu lesen. Einige Passagen hatte ich in der Vorbereitung schon überflogen, andere kannte ich bis dato noch nicht. Er las vor über seine ersten Tage in Deutschland, als er im Grundschulalter in Oberbayern ankam, von seinem Privatdeutschunterricht, von seinen ersten literarischen Tätigkeiten während seines Studiums und davon, dass er sich damals selbst als Deutscher wahrnahm, aber von anderen als Ausländer wahrgenommen wurde. Er erzählte vom Monokulturalismus, der, im Geiste der Deutschen fest verankert, Assimilationsgeschichten wie die Seine nicht wahrhaben könne und so Deutschlands Zukunftsfähigkeit behindere. Er erzählte auch von der Konzentration der Öffentlichen Wahrnehmung auf „Integrationsverweigerer“ und „sich abschottende Parallelgesellschaften“.
Er ging über zu Deutschlands Ruf als Kulturnation und dem Widerspruch, der sich ergibt, wenn diese Kulturnation den Kontakt mit anderen Kulturen im eigenen Land scheut und dazu, dass Begegnungen mit Kulturen in der Kindheit mit Abstand am fruchtbarsten sind, und dazu, dass Deutschland keine Einheit brauche, weil es keine gibt, und dass man auf seine Vielfalt stolz sein solle und nicht auf seine Einheit. Senocak sprach weiter vom Tenor der öffentlichen Meinung, vertreten durch Medien und Politik, der von einer Leitkultur Deutschlands spricht, die auf seiner „christlich-jüdischen Geschichte“ fuße und jede Präsenz anderer Kulturen im eigenen Land als Eingriff in diese Leitkultur versteht. Das nannte er ideologische Symbolpolitik, geprägt vom Unwissen über die eigene Geschichte, die voll von Kontakt zum Orient ist. Außerdem sei die als größtes geistiges Produkt der Deutschen gesehene Aufklärung kein Produkt „christlich-jüdischer Traditionen“, sondern musste sich extrem hart gegen diese behaupten.
An diesem Punkt hätte ich den Beginn der Diskussion erwartet; einen Aufruf an die Vertreter der Schulen, aufs Podium zu kommen. Stattdessen blieb es zu meiner äußersten Enttäuschung dabei, dass die fünf Personen auf dem Podium - Der Organisator (Dr. Helmut Hafner), Halime Cengiz als Vertreterin des Bremer Rates für Integration, Jens Böhrnsen, Zafer Senocak selbst und Cornelius Neumann-Redlin vom Unternehmerverband, Fragen aus dem gesamten Plenum entgegennahmen. Und zwar immer gleich im Dutzend, wodurch sie bis zu ihren Statements Zeit gewannen. Diese konnten sie dazu nutzen, sich Fragen zur Beantwortung und zum Ignorieren auszusuchen und diplomatische Antworten vorzubereiten. Das war nicht, was ich unter einer direkten Diskussion verstand und worauf ich mich vorbereitet hatte. Ich war aber trotzdem willens, meine Leitfrage beantwortet zu hören.
Die erste beantwortete Frage drehte sich um die Anerkennung der Feiertage anderer Kulturen und vor allem Religionen durch die Bremer Landesregierung, hierzu sagte Böhrnsen, die Bremer Landesregierung würde mit Vertretern der muslimischen Gemeinden Bremens an einem Vertrag arbeiten, der es Muslimen gestatte, sich an ihren Feiertagen freizunehmen und die verpasste Arbeit an anderen Tagen nachzuholen, solche Verträge gäbe es auch mit allen anderen großen Glaubensgemeinschaften. Außerdem wiederholte er einige altbekannte, unkonkrete Phrasen, von denen mir manche aus einigen Senatspressemitteilungen verdächtig bekannt vorkamen. Zu einer anderen Wortmeldung zitierte er G. Heinemann (SPD), der auf die Frage nach seiner Einstellung zum Patriotismus und ob er Deutschland liebe, geantwortet hatte: Deutschland ist ein schwieriges Vaterland“ und „Ich liebe nicht irgendein Land, ich liebe meine Frau“. Passte einigermaßen zum Thema, wenn auch nicht zum Kontext, und vermied eine eigene konkrete Meinungsäußerung. Meinen Respekt vor diesem gekonnten rhetorischen Schachzug. Böhrnsen sprach von sogenanntem „Verfassungspatriotismus“, auch keine eigene Idee. Es folgten weitere, von mir nicht schriftlich festgehaltene Phrasen. Zu guter Letzt zitierte er Senocak, der neben ihm am Tisch saß, mit den Worten „Liebe, die gezeigt wird, muss auch erwidert werden“, ein Satz, den dieser noch vor wenigen Minuten  (Oder war es doch schon eine halbe Stunde? Mein Zeitgefühl machte mich wahnsinnig) in seiner Lesung benutzt hatte. Er hatte sich in seinem gefühlt stundenlangen Statement um beinahe jegliche konkrete Beantwortung irgendeiner Frage herumgedrückt, nur die Erwähnung des Vertrages zum Thema Feiertage war eine solche.
Als nächstes war es an Herrn Neumann-Redlin, sein erstes Statement abzugeben. Dieses drehte sich dann tatsächlich zumindest teilweise um meine Leitfrage. Er sagte, Chancengleichheit sei wichtig und ohne sie sei auch die beste Bildung nichts wert, er und die Unternehmenerverbände unterstützten deshalb anonymisierte Bewerbungsverfahren. Er klopfte außerdem den altbekannten, so geliebten Spruch „Bildung ist der Schlüssel zu Allem“ und sah sich genötigt, nun auch einen von ihm sehr verehrten Bundespräsidenten zu zitieren. Er wählte Richard von Weizsäcker (CDU), der sagte „Deutschsein ist kein Schicksal, sondern eine Aufgabe“ und fügte hinzu, dass diese Aufgabe vielleicht sei, den Kontakt zu Anderen zu suchen und offen für Neues zu sein. Damit hatte er immerhin mehr konkrete Meinungen als der Bürgermeister geäußert, sich aber immer noch relativ bedeckt gehalten und keine direkten Antworten gegeben.
Nach Neumann-Redlin war die Vertreterin des Bremer Rates für Integration, Frau Cengiz,  an der Reihe. Sie erzählte im Kampfreden-Ton, dass sie sich weigere, sich „Ausländerin“ nennen zu lassen und rief alle im Raum dazu auf, dasselbe zu tun. Ihre Worte waren „Ihr seid keine Ausländer, ihr seid Bremer!“, woraufhin tosender Applaus die obere Rathaushalle erfüllte.
An dieser Stelle muss ich kurz eine Beschreibung des Publikums einschieben: Es handelte sich, wie erwähnt, um, grob geschätzt, 120 Schülerinnen und Schüler, von mehreren Gesamt- und Oberschulen und unserem Gymnasium, von denen augenscheinlich ein großer Teil einen Migrationshintergrund hatte. Zu Anfang der „Diskussion“ konnte ich auf einen Blick von meiner Position aus mehr als eine Handvoll Handies sehen, mit denen herumgespielt wurde. Lediglich bei Populismusmomenten wie dem oben Genannten stieg der Aufmerksamkeitspegel an. Jetzt weiter im Text.
Die Vertreterin des BRI sprach nun von ihren Kindern, die sich nicht als Deutsche und nicht als Türken fühlten, sondern als Bremer. Hier wurde ganz simpel Patriotismus durch Lokalpatriotismus ersetzt, diese Methode resultierte in allgemeine Begeisterung seitens der Ober- und Gesamtschüler; unter meinen JahrgangskollegInnen sah ich hingegen viele skeptische Gesichter. Es folgte der Aufruf, nie aufzugeben und immer gegen Diskriminierung zu kämpfen. Sie richtete sich an Alle und machte damit alle im Plenum Anwesenden gleich. Sie sagte, sie selbst sei eigentlich nur Hausfrau und engagiere sich trotzdem im BRI und auch religiös. Sie zitierte „ihren Propheten“ mit den Worten „Der beste Mensch ist der, der seinen Nächsten am nützlichsten ist“ und rief noch einmal auf, immer dagegen zu kämpfen, als Schüler mit Migrationshintergrund diskriminiert zu werden und sich zu engagieren. Sie hatte mit ihrer kleinen Rede den Teil der Schüler, die sich selbst als „deutsch“ bezeichnen würden, völlig übergangen und sich auch sonst auf platte, populistische Sprüche beschränkt, die ihr zwar eine Menge Applaus, aber keine Anerkennung als besonders intellektuell einbrachten.
Nach dieser interessanten Demonstration der Begeisterungsfähigkeit Halbstarker für Stammtischparolen war es wieder möglich, Fragen zu stellen, zumindest, wenn man einen Freund mit Mikrofon hatte, denn die beiden Mikrofone kreisten unkontrolliert unter den Schülern. Es wurden unter anderem eine Reihe Fragen an Zafer Senocak gestellt: Wie hätte er die Frage, ob er Deutschland oder dieTürkei bevorzuge, als Jugendlicher beantwortet und wie würde er sie heute benatworten? Wann ist ein Schüler integriert? Was halten sie davon, in Deutschland als Deutscher akzeptiert zu werden?
All diese Fragen zeugten davon, dass so mancher Senocaks Konzept der Bikulturalität nicht verstanden hatte, und so erklärte er es, damit es auch der Letzte verstand, mit den Worten „Man kann zwei Herzen in seiner Brust tragen“.
Einigermaßen sinnvolle Fragen gab es glücklicherweise aber auch: Warum werden trotz des Redens von Integration im Schulunterricht immer noch häufig die Unterschiede zwischen Deutschland und dem Islam betont? Wie definiert sich Deutschsein? Auf erstere Frage gab er leider keine klare Antwort, auf die zweite Frage schon: Er sagte, er hätte sich gerne vor dieser Antwort gedrückt, da sie schwer zu finden sei, aber er hätte eine ausreichende gefunden: Deutschsein heiße, die Freiheit im Land zu wahren und dieses Land weiterzuentwickeln oder zumindest den Anspruch dazu zu haben.
Abermals bekam Jens Böhrnsen das Wort. Er begann erneut mit einer Phrase: Integration sei dann erreicht, wenn man das Wort selbst nicht mehr bräuchte. Außerdem würde der Prozess der Integration kontinuierlich von alleine passieren, aber er und seine Regierung wollten sich anstrengen, um diesen Prozess zu beschleunigen. Diese zwei Sätze paraphrasieren ein eine gefühlte Ewigkeit langes Konglomerat an Sätzen, die alle dieselbe Kernaussage hatten: Ich möchte viel reden, ohne etwas zu sagen, um mein Gesicht zu wahren. Dem Großteil des Plenums schien das nicht aufzufallen. Wieder ließ sich ein Unterschied zwischen den Schülern der verschiedenen Schulen beobachten: Die SchülerInnen meiner Schule schienen enttäuscht, während die anderen Schüler entweder zufrieden oder generell desinteressiert wirkten. Wieder drängte sich mir die Frage auf, zu welchem Teil das Schulsystem an der Spaltung der Gesellschaft beiträgt und was sein Einfluss auf den „Prozess der Integration“ sein könnte. Die Ironie dieser Beobachtung ließ mich innerlich mit einem Auge lachen und mit dem anderen weinen.
Nein, eigentlich eher mit beiden Augen weinen.
Wieder Fragerunde.
An Böhrnsen: Welche konkreten Maßnahmen wird er ergreifen, um den Prozess der Integration zu fördern? Warum werden keine Maßnahmen gegen Diskriminierung im Bildungssektor ergriffen? Selbstverständlich ließ Böhrnsen beide Fragen in seinem nächsten Statement unbeantwortet.
An Zafer Senocak: Unterscheiden sich bei seinen Texten der deutschsprachige und der türkischsprachige Autor? Stimmt es, dass, je gebildeter alle Mitglieder einer Gesellschaft sind, der Begriff Integration immer mehr an Bedeutung verliert? Und als dumme Frage: Was sei seiner Meinung nach die deutsche Leitkultur? Er beantwortete die erste Frage damit, dass diese beiden Autoren völlig verschiedene seien, denn die Sprachen seien so unterschiedlich, dass auch zwei Typen von Autor aus ihnen entstehen. Die zweite Frage beantwortete er im Wesentlichen mit einem „Ja“, auf die dritte ging er gar nicht erst ein.
Ab hier verlief die Diskussion mit einigen Schlussstamements im Sande. Zafer Senocak sagte, er sei begeistert davon, wie viele engagierte Schüler (bei diesen Worten musste ich unwillkürlich zu der Handvoll Handies schielen und schmunzeln) sich hier eingefunden hätten, und dass das das erste Mal gewesen sei, dass er so etwas erlebt hätte. Jens Böhrnsens Schlussstatement wiederholte im Grunde genommen nur seine vorangegangenen Phrasen.
Im Gehen unterhielt ich mich mit einem Mitschüler über diese Veranstaltung; wir waren einer Meinung in unserer Enttäuschung über das, was uns und unseren Lehrern im Voraus als „Podiumsdiskussion“ angekündigt worden war und über die Qualität der einzelnen Podiumsteilnehmer.
An dieser Stelle gibt es nicht mehr viel zu sagen. Meine wesentliche Kritik sollte aus der Erzählung der Veranstaltung hervorgegangen sein, meine Enttäuschung auch. Zusammenfassend kann ich nur sagen:

1.) Erwarte nie zu viel, wenn amtstragende Politiker zur Diskussion einladen. Du wirst höchstwahrscheinlich keine Antworten erhalten, die dir weiterhelfen könnten.

2.) Autoren intelligenter, gesellschaftskritischer Texte sollten vorher informiert werden, auf welchem intellektuellen Niveau das Bildungssystem dieses Landes einen Großteil seines Auditoriums leider zurückgelassen hat, ansonsten droht Enttäuschung aufgrund von Nicht-Verstanden-Werdens.

Beste Grüße aus dem Tal der Verdammnis Symbolpolitik,
Fortytwo

2 Kommentare:

  1. Aaaaaah! Ich habe keine Lust das alles zu lesen, aber ich kann einfach nicht aufhören, weil das so gut geschrieben ist...

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